Über den Grad und Umfang der Amtsaufklärung in Sorgerechtsverfahren

Dies ist kein wissenschaftlicher Aufsatz! Es ist nicht einmal zusammengetragenes Wissen mit irgend einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Es sind lediglich die Gedanken eines Anwaltes, der im Strafrecht und in familienrechtlichen Sorgerechtsverfahren tätig ist, ein Essay.

Die Ausgangssituation ist meistens sehr vergleichbar: Die Eltern haben sich getrennt und führen eine Art Krieg gegeneinander, die Kinder sind mehr oder weniger auffällig, und nun kommt das Elternteil, das nicht aufenthaltsbestimmungsberechtigt ist, auf die Idee, nur mit einem Wechsel in den eigenen Haushalt sei eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden.

In dem entsprechenden Sorgerechtsverfahren kämpfen beide Parteien (die Eltern) wie sie es gewohnt sind gegeneinander, diesmal im Beistand mehr oder weniger kundiger Anwälte, das Gericht bestellt einen weiteren Anwalt oder Psycho-Arbeiter für das Kind, und das Jugendamt führt Gespräche mit den Eltern, dem Kind und gegebenenfalls auch mit den Verfahrensbevollmächtigten, um anschließend eine Empfehlung (Meinung) abzugeben.

Alle daraus erlangten Informationen (also Meinungen) werden dem Gericht vorgelegt, dass dann eine Entscheidung zu treffen hat.

Diese Art des Erkenntnisgewinns erinnert an moderne politische Diskussionen: Es werden Meinungen gewertet und verlässliche objektive Informationen für unnötig gehalten. Dies beginnt schon bei der Art und Weise der Informationsgewinnung: Die Informationen, die die Eltern dem Gericht vermitteln wollen sind naturgemäß subjektiv gefärbt und deswegen unvollständig. Es ist eine Banalität, auf die gleichwohl hinzuweisen ist, dass der Zeugenbeweis der unsicherste Beweis ist und die Wahrnehmung von Zeugen von ihrem eigenen intellektuellen und emotionalen Horizont geprägt sind.

Statt nun aber im Abgleich der Informationen einen objektiven „Mindestgehalt“ der Tatsachen zu filtern, holt das Gericht weitere subjektive Bewertungen vom Verfahrensbeistand des Kindes und dem Jugendamt ein. Denn die Feststellung ist ebenso banal, dass emotionale, soziale und intellektuelle Hintergrund der Mitarbeiter des Jugendamtes und des Verfahrensbeistands des Kindes deren Wahrnehmung ebenso prägen, wie dies bei den Eltern der Fall ist. Da der Erkenntnisgewinn, den diese beiden Menschen zu erzielen hoffen, von den Eltern und dem Kind stammt, liegt hier sogar eine doppelte Subjektivität vor, weil – strafrechtlich gesprochen – beide Zeugen vom „Hörensagen“ sind.

Man mag mir den kindlichen Vergleich verzeihen: Wenn man einen Rennfahrer und einen Sonntagsfahrer über eine Landstraße fahren lässt, dann weichen deren Erlebnisberichte voneinander ab. Man kann danach nicht beurteilen, wie man selbst die Strecke fahren „sollte“. Und die Beurteilung wird auch nicht sicherer, wenn man Rennfahrer und Sonntagsfahrer von einem Busfahrer interviewen lässt, der dann anschließend seine (eigene?) Einschätzung der Strecke zum Besten gibt. (Ich möchte damit nicht das Kind sondern dessen Entwicklung mit einer Landstraße vergleichen.)

Die entscheidende Frage ist, ob Beweismittel zur Verfügung stehen, die einen objektiveren Erkenntnisgewinn erwarten lassen. Voraussetzung eines solchen Beweismittels ist, dass so gut es geht die Aussagen von Kind und Eltern auseinandergenommen werden, sodass der Tatsachenkern von der subjektiven Wahrnehmung unterschieden werden kann. Als ein solches Beweismittel kommt ein Sachverständiger mit seinem Gutachten infrage.

Tatsächlich werden Sachverständigengutachten in Sorgerechtsverfahren eingeholt. Meistens handelt es sich um ein Gutachten zur sogenannten Erziehungsfähigkeit, mit deren Erstellung ein Psychologe beauftragt wird. In den allermeisten Fällen kommt der zu dem Ergebnis, dass beide Eltern in ihrer Erziehungsfähigkeit nicht (oder kaum) eingeschränkt sind. Das liegt daran, dass die Erziehungsfähigkeit nur dann ausgeschlossen ist, wenn der Gutachter zu dem Ergebnis kommt, dass das jeweilige Elternteil der Erziehungsaufgabe nicht oder nur teilweise nachkommen kann. Der Fokus der Begutachtung liegt also auf der Interaktion zwischen Elternteil und Kind. Der Geisteszustand der Eltern ist nur in seltenen Ausnahmefällen Gegenstand des Gutachtens. Und das Bemessungskriterium ist eine Gefährdung des Kindeswohls. Über beide (Erziehungsfähigkeit und Kindeswohl) sind ganze Bibliotheken geschrieben worden, die ich nicht zitieren will.

„Die Kinder haben nun mal die Eltern, die sie haben“, ist der Grundsatz, unabhängig davon, ob es „gute“ oder „schlechte“ Eltern sind. Aber auch unabhängig davon, ob die Äußerungen der Eltern manipulativ sind oder nicht.

Vielleicht wäre es an der Zeit, die Eltern nicht nur im Hinblick auf die Fähigkeit zur Erziehung des Kindes untersuchen zu lassen, denn dies beinhaltet nur, dafür sorgen zu können, dass die Kinder eigenverantwortlich und selbstbestimmt werden leben können. Ob sie dabei gleichzeitig gefördert werden oder gebremst, manipuliert oder indoktriniert, ist für das Ergebnis des psychologischen Gutachtens ohne Interesse.

Viele Kinder müssten gefördert und gefordert werden, und nicht alle Eltern, die erziehungsfähig sind, suchen oder erkennen das Potential ihrer Kinder. Nur die Resilienz der Kinder gibt ihnen (manchmal) die Stärke, sich gleichsam am eigenen Zopf aus dem Sumpf der elterlichen Bestimmung zu ziehen. Die Eltern sind nur dazu in der Lage, im Rahmen ihrer eigenen Befindlichkeit die Grenzen ihrer Bemühungen zu erkennen oder eben nicht zu erkennen. Das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“. In einem psychologischen Gutachten zur Erziehungfähigkeit können Erkenntnisse hierüber nicht gewonnen werden, weil das nicht im „Zielgebiet“ des Gutachtens liegt.

Im Übrigen sind Psychologen keine Ärzte. Sie können also keine medizinische Diagnose stellen, weil sie dazu nicht ausgebildet sind. Ein Psychiater jedoch kann eine Gesamtdiagnose stellen und die möglichen psychiatrischen Auffälligkeiten der Eltern benennen. Dies ist eine Unterstützung der Tatsachenfeststellung durch objektivierbare Hintergrundinformation. Es macht allerdings (auch dem Gericht) mehr Mühe.

Bevor nun aber der kriegerische Elternteil, der das Sorgerechtsverfahren beginnen möchte, in Jubel ausbricht, gebe ich zu bedenken, dass diese Begutachtung beide Elternteile betreffen muss und sich durchaus herausstellen kann, dass der psychiatrisch Auffällige nicht der Betreuende ist. Der Schuss kann „nach hinten losgehen“. Denn in keinem Fall ist ein ausdauernder Streit von nur einem Elternteil zu verantworten. Die im Laufe des Streits sich verhärteten Fronten führen vielmehr dazu, dass medizinische Auffälligkeiten in der Psyche beider Elternteile sich eher verstärken als verbessern.

Dies ist auch der Grund warum in manchen Fällen über das Sorgerecht tatsächlich entschieden werden muss. Wer psychisch auffällig ist, der braucht eine Therapie, keine Mediation.

Diese Konsequenz im Hinblick auf das Sorgerecht ist aber nicht (und in gar keinem Fall) auf das Umgangsrecht zu beziehen. Ob Sorgerechtsinhaber oder nicht: Der zweite Elternteil hat ein Umgangsrecht. Ob dies im 14-tägigen Wochenendmodus zu erfolgen hat oder nicht, darf getrost bezweifelt werden. Diese Regelung ist in der Schweiz erfunden worden, um drogenabhängigen Elternteilen den Umgang mit ihrem Kind zu gewähren für den normalen Vater oder die normale Mutter ist das sicherlich nicht ausreichend. Das Wechselmodell, dass Gerichte und Jugendämter so sehr ablehnen, hat den großen Vorteil, die Gleichberechtigung von Vater und Mutter in den Augen des Kindes zu gewährleisten. Kinder machen sich keine Gedanken darüber wer über die Einschulung zu bestimmen hat oder wer entscheidet, dass eine Klammer getragen werden muss, sondern Kinder machen sich Gedanken darüber, welches Elternteil Zeit mit Ihnen verbringt und wie viel Zeit es ist. Und das tun sie unabhängig davon, ob sie „gute“ oder „schlechte“ Eltern haben. Kinder verstehen nicht, warum sie ein Elternteil mehr sehen dürfen als das andere, und „Ruhe“ kehrt dadurch in die Kinderseele auch nicht ein, denn die Trennungssituation besteht fort und die Kinder bleiben zerrissen zwischen ihrer Zuneigung zu Mutter und Vater. Unabhängig davon, wen sie wie oft sehen. Es geht nicht darum, einen Loyalitätskonflikt zu beenden, denn das scheint mir unmöglich. Es geht darum, ihn den Kindern erträglich zu machen.

Ich möchte hiermit kein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion leisten, sondern einen Denkanstoß geben, damit die Gerichte nicht nur über das Kindeswohl entscheiden, sondern sich vielleicht etwas mehr um das Wohl des Kindes bemühen.

AlexanderAlte im September 2021